Die Moral des Reisens

Die Moral des Reisens

Oder: Kann ich das Leben, das ich lebe, selbst vertreten?

Als ich in den letzten Tagen begann, an diesem Text zu arbeiten, bemerkte ich schnell, wie vielschichtig und breit gefächert das Thema ist. Dass es unendlich viele Blickwinkel gibt, bzw. dass es genauso viele Blickwinkel, wie Reisende gibt. So wird der Versuch, sie alle zu beachten, kläglich scheitern.
Kann man die Moral einer Sache überhaupt auf eine einzige runterbrechen? Schon, wenn man allgemeine Werte und Regeln als Maßstab nutzt. Doch möchte ich das hier nicht tun, das wäre zu unpersönlich und würde mir nicht entsprechen. Und so will ich nun, nachdem ich einige Blickwinkel erkundet habe, wieder zu meinem eigenen zurückkehren.


INTRO

Seitdem ich hier im Kloster angekommen bin, habe ich sehr viel über mein Leben als Reisende reflektiert. Es ist der Kontrast, mehr als die Ruhe, der diese Gedanken hochgebracht hat. So befasse ich mich gerade viel mit den Fragen darum, was ich aus meiner Reise ziehen will, welche Art des Lebens und Wohnens mir entspricht und worauf ich achten will, damit ich entsprechend meiner Werte lebe und agiere.

Die Frage danach, inwieweit Egozentrik meinen Lebensstil prägt, beschäftigt mich seit geraumer Zeit. Ja, wahrscheinlich so ziemlich seit Beginn meiner Reise vor eineinhalb Jahren. Inzwischen weiß ich, dass ich damit nicht alleine bin. Und auch, dass nicht alle Reisenden diese Gedanken haben. Ich denke hierbei spielt es sich genauso wie mit allen anderen Aspekten des Lebens. Manche Menschen hinterfragen ihre Entscheidungen und ihren Lebensstil mehr, andere weniger.


Die Motivation für diesen Text stammt aus einer Unzufriedenheit über die letzten Wochen. So habe ich bemerkt, dass ich keine Bedeutung mehr in dem stetigen Ortswechsel und Hostel-Jumping finde. Obgleich ich viel Neues gesehen und gelernt habe, denke ich, dass die Zeit von planlosen durch die Gegend gurken für mich vorbei ist. Zu unbeständig war mir das Ganze, zu frei auf ne Art und zu bedeutungslos.

So stellte sich mir die Frage: Ist es simpler Eigensinn, was ich hier tue oder hat es auch gute Seiten?

Ich bin gespannt, ob ich hierauf eine Antwort finden werde.

Die Dächer von Fo Guang Shan

Von Vorne

Zuerst einmal glaube ich, dass kaum einer von uns Backpackern aus Altruismus heraus reist. Wir alle wollen die Welt sehen und dabei eine gute Zeit haben. In diesem Sinne stellen wir unsere Bedürfnisse an erste Stelle. Doch bedeutet das noch nicht gleich, dass wir nur unser persönliches Wohl im Kopf haben. Wie mit allem anderen kommt es darauf an, wie wir es machen.

Im Punkto Langzeitreisen...

Um herauszufinden, ob ich mein Leben moralisch rechtfertigen kann, war es notwendig, die Merkmale meines Lebens genauer zu betrachten.

An erster Stelle steht da der Fakt, dass ich nicht auf begrenzte Zeit reise, sondern dass dies mein Leben ist. Das gerät schnell in Vergessenheit und ich muss aufmerksam bleiben, um nicht jetzt schon mental beim nächsten Reiseziel zu sein.

Da das Reisen für mich keine Phase ist, gelten auch keine Ausnahmeregelungen. Meine Werte und Glaubenssätze müssen die gleiche Gültigkeit und Anwendung finden, wie die von jemandem, der einen festen Wohnsitz hat. Darin liegt wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass mir das Hostel-Jumping, was ich in den letzten 4 Wochen betrieben habe, mehr und mehr missfiel.

Wenn Reisen der Dreh- und Angelpunkt des Lebens ist, verändert das Dinge. Denn, wer möchte in seinem normalen Leben schon gerne darauf verzichten, zur Ruhe zu kommen und Halt zu finden? Doch das sind zwei Dinge, die das Hostelleben eben nicht hergibt.

Viel wichtiger als das ist jedoch die Erkenntnis darüber, warum es sich weiterhin bedeutungslos anfühlt so zu reisen. So stelle ich immer mehr fest, dass das Gefühl von Zugehörigkeit und das ehrliche Kennenlernen eines Ortes und seiner Menschen das ist, worum es mir beim Reisen geht. Für mich liegt kein Wert darin, eine Liste von Orten und Attraktionen abzuklappern. Ein Ort bleibt so flach, wie am ersten Tag, wenn ich keine Menschen kennenlerne, die ihn mit Leben und Liebe füllen.

Die Zeit, die ich mitbringe, verändert somit alles. Ein Ort ist nicht der Gleiche am 1. Tag im Vergleich zum 7. oder 30.

Ich denke, dass hierin der eigentliche Wert des Reisens liegt und die Magie dessen. Es braucht Zeit und Hingabe, um wahre Schönheit zu sehen. Das gilt für Orte genauso wie für Menschen.

Doch mit der zunehmenden Geschwindigkeit, in der das Leben auf unserer Welt passiert, passiert auch das Reisen. Und so treffe ich wenig auf Menschen, die sich wirklich Zeit nehmen, um an einem Ort zu verweilen und ihn kennenzulernen. Wir beginnen uns schnell zu langweilen und entscheiden, dass manche Orte es nicht Wert sind, länger als 2 Nächte an ihnen zu verbringen.

Aber was wäre, wenn wir nur zwei Orte in jedem Land, das wir bereisen, besuchen, und dafür länger an ihnen verweilen? 

Würden wir das Land vielleicht sogar besser kennenlernen? 

Ich habe das Gefühl, genau das könnte der Fall sein. Es gäbe uns Zeit, die Person in unserem Lieblings-Frühstückslokal kennenzulernen und die Barista im Café. Es würde sich endlich lohnen, Kontakt mit den Locals aufzubauen und Erinnerungen zu schaffen, die uns noch lange Zeit wohlig fühlen lassen.

Hikes and Friends

Was unterscheidet mich vom normalen Touri?

Mir über diesen Punkt klar zu werden, war wichtig, um eine Haltung gegenüber dem Thema zu finden. Denn während Tourismus für viele Länder eine der Hauptindustrien ist, ist es gleichzeitig eine unfaire und ausbeutende. Dazu möchte ich so wenig wie möglich beitragen und so müssen Alternativen her.

Um eine Antwort zu finden, habe ich viel mit Gleichgesinnten gesprochen und viel auf anderen Blogs nach verschiedenen Meinungen gesucht. Im Ergebnis habe ich festgestellt, dass uns drei Dinge fundamental voneinander unterscheiden. Das sind

Zeit, Geld und Motivation.

Wie beeinflusst dies die Art, wie wir reisen?

Uns Backpackern ist es wichtig, so lange wie möglich unterwegs zu sein. Dabei steht dieser Wunsch einem meist knappen Budget gegenüber. Fast automatisch treibt uns dies zu den kleinen und lokalen Restaurants, weg von den großen Fastfood-Ketten. Dadurch landet unser Geld direkt bei den Menschen vor Ort und bleibt in der Gemeinschaft. Das Gleiche gilt für Unterkünfte. Auch hier ist die günstigste Option meist lokal. Oft finden sich neben Backpackern viele Einheimische unter den Gästen. Das hat mir bereits viele interessante Gespräche beschert und einen ersten Einblick in die Kultur des Landes verschafft.

Dennoch führt die Budgetgrenze nicht nur zu Gutem. Die beliebtesten Reiseziele für Backpacker sind oftmals die Länder, in denen die Lebenshaltungskosten für sie gering sind. An vielen Orten führt dies zu einer krassen Veränderung der Kultur und der Lebensbedingungen der Einheimischen. Und während ich einige dieser Orte nur zu gern besuchen würde, stehe ich doch im Konflikt mit mir. So gut wie möglich möchte ich versuchen, nicht zur Zerstörung des Kulturguts beizutragen. Meiner Meinung nach ist es uns allen möglich, ein Augenmerk darauf zu haben und weiterhin denke ich, dass wir es alle haben sollten. 

Unsere moderne Welt bietet Zugang zu endlosem, uns leicht zugänglichen Wissen. So steht kaum einem Menschen mehr die Ausrede zu, er oder sie habe nichts von den Missständen gewusst, die in ihrem Urlaubsland herrschen. Wer zu dieser Zeit durch die Welt reisen möchte, der sollte sich von Ignoranz und übermäßiger Selbstbezogenheit lösen und versuchen, Reiseziele und Werte aufeinander auszurichten.

Da kommt die Zeit und die Motivation ins Spiel. Die Möglichkeit länger an Orten zu verweilen öffnet die Türen für Alternativen zum Hostel und Hotel Tourismus. So gewinnt die Teilnahme an Freiwilligenprojekten immer mehr an Bedeutung für mich und ist die vielleicht nachhaltigste Form des modernen Backpacking. Denn, es ermöglicht eine Art Austausch: ich bekomme die Chance, einen Teil des Landes zu sehen und meine Hosts bekommen die Unterstützung, die sie brauchen. So gebe ich etwas zurück an den Ort, den ich bereise ohne einfach nur Gebrauch von ihm zu machen.

Natürlich kommt es auch hier darauf an, wie man es macht. Es wird schwierig sein, sich zu integrieren und an die einheimische Kultur zurückzugeben, wenn das Freiwilligenprojekt von Expats geführt wird. Und ein Aufenthalt kann einem noch so viele Chancen geben, sich einzubringen, doch es nutzt nichts, wenn man diese Chancen nicht ergreift. Wenn ich in den letzten Wochen eines gelernt habe, dann ist es, dass es auf mich ankommt. Niemand anders wird die Arbeit für mich erledigen, die es braucht, um die Erfahrungen zu machen, nach denen ich strebe.

Was du vom Teehaus aus sehen kannst

Die Wichtigkeit des warums

In der Beantwortung meiner Frage nach der Selbstbezogenheit meines Lebens als Reisende bemerke ich, dass nichts losgelöst vom Kontext beurteilt werden kann und es einfach nicht die eine Art gibt, Dinge zu tun.

So lerne ich Reisende kennen, deren Leben von so viel Wohlwollen für ihre Umgebung geprägt ist, dass es mich wahrlich inspiriert, ein besserer Mensch werden zu wollen. Wieder andere lassen mich feststellen, dass man auch komplett ohne das Streben nach Fairness und Miteinander reisen kann. Es gibt so viele Möglichkeiten zu Reisen und sein Leben zu gestalten. Es gibt so viele Wege, wie es Reisende gibt und noch unendlich viele andere, die nur in unseren Köpfen existieren. Wichtig bei dem Allem ist schlicht und allein, dass mein Leben dem entspricht, was für mich wichtig ist und was ich mir für es vorstelle. Sonst nichts.


Mit jedem Tag der vergeht weiß ich mehr, warum ich tue, was ich tue und entwickle gleichzeitig ein besseres Feingefühl dafür, woran ich noch arbeiten muss. 

So reise ich jetzt, weil das Kennenlernen neuer Menschen und Kulturen mich so begeistert, wie wenig sonst in dieser Welt. Ich reise, weil ich die Herausforderung liebe, die mir dieses Leben stellt. Ich reise, weil ich lernen und wachsen will und nichts das so fördert, wie das Reisen in ferne Länder.

Ehrlich zu wissen, was es ist, dass ich an meinem Leben so liebe, ermöglicht es mir, mein Leben genau darauf auszurichten. Dies verleiht allem mehr Authentizität und ermöglicht mir weiterhin das Empfinden, das ich so lange vermisst habe – das Gefühl, tatsächlich am Leben teilzuhaben.

Wenn ich reise, bringe ich Zeit und Liebe mit, wo auch immer ich hingehe. Das war nicht so, als ich noch fest verwurzelt in meiner Heimatstadt wohnte. Das Reiseleben macht mich darauf aufmerksam, was für mich wahrlich Bedeutung hat und gibt mir gleichzeitig die Freiheit, diese Dinge in mein Leben einzubauen. 


Über meine Bedenken

Neben den Stimmen in meinem Kopf, die aus der Ungerechtigkeit unserer Welt entstehen, sind es die Stimmen der unzufriedenen Menschen in meiner Heimat, die mich manchmal umtreiben.

Menschen, die meinen, sie tragen uns Reisende auf ihren Schultern. Menschen, die sagen, dass es Leute wie sie selbst geben muss, die weiterhin hart arbeiten, damit Menschen wie ich die Möglichkeit haben, ihren Traum zu leben. Inzwischen denke ich, dass das vollkommener Blödsinn ist.

Es ist eine unfaire Behauptung, denn die Menschen, die ich treffe, haben Monate, teils Jahre für ihre Reise gearbeitet. Sie nehmen so oft ihren ganzen Mut zusammen, um sich ihren Traum zu erfüllen. Waren lange unglücklich, weil sie eben nicht das Leben leben konnten, was sie sich so sehnlich wünschen.

Am Ende des Tages ist es nicht die Schuld der Langzeitreisenden, dass Stellen nicht besetzt werden und in manchen Branchen chronische Unterbesetzung herrscht. Schließlich sind wir Backpacker keine anhaltende Massenbewegung. Die meisten von uns kehren irgendwann zurück. Kehren zurück mit einem klareren Kopf und einem besseren Verständnis für sich selbst und die Welt.

So liegt die Herkunft dieser Worte vielleicht einfach im Neid und der Unzufriedenheit der Menschen begraben. Doch für die kann keine der Reisenden etwas. Diese aufzulösen bedarf allein uns Selbst.


Weiterhin umtreibt mich manchmal das Gefühl, ich sollte ein schlechtes Gewissen dafür haben, dass ich ein zufriedenstellendes Leben nach meinen Vorstellungen führe, während andere Menschen in ihrem gefangen sind. Doch würden ich und andere nach diesem Prinzip leben, gäbe es kein Glück auf der Welt.

Und was ist das Leben schon Wert, wenn wir nicht froh sind?

Wenn auch noch die Menschen mit dem Mut für Veränderung sich der schweigenden Masse anschließen, dann würde es doch schnell noch dunkler werden in dieser Welt. So glaube sind alle besser dran, wenn ich weiterhin das tue, was mir entspricht und mit der Zeit lerne, was es ist, das ich zurückgeben will.


Fazit: Kann ich das Leben, das ich lebe, selbst vertreten?

Genauso lange, wie es mich gebraucht hat, meine Gedanken für diesen Text zu ordnen, hat es gedauert, bis ich meine ungefähre Position im Für und Gegen gefunden habe. Und es ist noch immer mehr oder weniger das: ein Dafür und ein Dagegen.

So kann ich mich davon überzeugen, dass ich ein Leben lebe, welches ich moralisch vertreten kann, während gleichzeitig das Gegenteil der Fall ist. 


Ich glaube, ich muss noch lernen, mit meinem Lebensstil okay zu sein. Ein wichtiger Schritt dafür ist zu versuchen, das Schuldgefühl dafür abzulegen, dass ich Privilegien genieße, die anderen verwehrt sind. Denn das Ding ist: für meine Hautfarbe und meinen Geburtsort kann ich nichts. Wofür ich jedoch etwas kann, sind mein Verhalten, meine Entscheidungen und meine Worte. So will ich mich davor hüten in der Schuld unterzugehen. Stattdessen will ich sie umwandeln in Energie und als Antrieb nutzen, um zurückzugeben und wiedergutzumachen.

Lange habe ich den Einfluss unterschätzt, den zwischenmenschliche Beziehungen und eine positive Einstellung dem Leben gegenüber haben. Ich war übermäßig fokussiert auf all die messbaren Dinge dieser Welt. So merke ich, dass die Gesellschaft mich gelehrt hat, dass Geld das ist, was Dingen Wert gibt. Doch in Wirklichkeit ist es alles, wofür ich nicht bezahle oder bezahlt werde, was mein Leben lebenswert macht.

Ich bin ein wertvoller Teil des Ganzen auf Grund der Dinge, die ich tue und der Worte die ich sage. Dadurch, wie ich Menschen fühlen lasse und wie ich sie behandle. Ich definiere mich dadurch, dass ich mein Wort halte. Mir und dir und der Welt gegenüber. Darüber reflektiert zu haben, das bemerkt zu haben - das macht den größten Unterschied.

Nie und nirgends habe ich je so viel über das Leben gelernt, wie auf Reisen. Nie so viel über mich. Durch das Reisen vereinen sich tausend Welten in mir und werden auf einzigartige Art und Weise zu einer. Meine Sicht auf die Dinge teilt niemand und darin liegt hoffentlich das Potenzial für Veränderung.

So reise ich vielleicht aus Eigensinnigkeit. Doch was ich tue, das ist nicht eigensinnig. Meistens zumindest.