Ist das Heimat?

Ist das Heimat?

Eingefangene Momente meiner Tage zuhause.

19/12 Ein langer Tag geht zu Ende. Ich hoffe, es geht dir noch gut, wenn ich wiederkomme. Heute konnte ich zum ersten Mal die Freiheit spüren, die mir mein neues Leben geben kann. Sie ist natürlich anders, wie erwartet. Ich konnte sie sowieso nicht erwarten. Ich steige eine Station früher aus. Die FFP-2 Maske lässt mich immer die frische Luft vermissen und dann noch mehr genießen. Es regnet heute unerlässlich und die Rüben des Gemüsestands an der Straße glitzern nass im Licht der Laternen. Ich hör' seit Tagen die gleiche Musik. Rauf und runter, weil es einfach nichts anderes gibt, was mir grad sonst gefällt. Die Melodien spielen unentwegt in meinem Kopf, bestimmen mein Gemüt.

Mein Leben führe ich nun ganz anders. Doch hier ist noch alles wie früher. Eine Vertrautheit, von der ich dachte, dass ich sie ersehne. Doch jetzt lastet sie drückend schwer. Dass ich nicht mehr bin, wer ich war, weiß keiner der Menschen, denen ich auf der Straße begegne. Dabei schreit alles in mir danach. Die Gläser im Küchenschrank meiner Eltern stapeln sich noch immer gleich und wie mit 16 versuche ich den Geschirrspüler leise auszuräumen, um meinen Vater nicht zu stören. Seit Tagen tauchen in meinem Kopf unentwegt Gedanken auf. Kurze und lange, und alle so eindringlich, dass ich ständig stehen bleiben muss, um sie aufzuschreiben. Ich will, dass mir keiner von ihnen durch die Finger rutscht. Sie sind das Wertvollste, was ich besitze. Sie sind, was allem zumindest einen Hauch von Sinn gibt. Die Menschen sind unnahbar wie eh und je. Sie lassen mich vergessen und spüren, dass ich es nicht mehr bin.

20/12 Eine Woche in der Heimat. Ich seh all die alten Gesichter wieder. Es ist schön, wir verbringen gute Momente zusammen. Vieles ist wie früher, doch getunkt in neue Farbe, erscheint in anderen Nuancen. Alte Fassaden, neue Gedanken. Die Momente sind rar und so vergänglich- wahrscheinlich sollte ich sie hüten wie einen Schatz. Begegnungen sind tief, weil lang bekannt. Doch trauern tue ich nicht, sobald sich die Tür geschlossen hat. Es ist halt eben, wie es ist.

21/12 Der Regen in dieser Stadt ist unerlässlich. So habe ich das lange nicht mehr erlebt. Und ich habe vergessen, wie charakteristisch dies für meine Stadt ist. Der Wind peitscht uns allen um die Nase und was vorher trist war, ist nun auch noch durchnässt. Ich hole mir einen Kaffee, während ich auf meinen Zug warte und hoffe, dass sich dadurch etwas Ruhe ergibt. Immer noch spürbar zwischen den Zeiten und in so vielen Realitäten gleichzeitig. Hier zu sein, in der Stadt, wo ich die meisten Jahre meines Lebens verbracht hab, gibt mir überraschend ein Bewusstsein dafür, wie viele Rollen mein Leben ausmachen.
Neben mir führt ein Mann ein Gespräch mit seinem Telefonanbieter. Es trägt nicht zur Ruhe bei. Christmas Lattes und Zimt Cappuccinos finden ihre Abnehmer und um mich herum erfreuen sich Menschen an den nie endenden Angeboten, die die Weihnachtszeit in Deutschland bietet. Sosehr ich es auch will, für mich ist das nichts mehr. Die Leere, die es mir gibt, will ich nicht mehr tragen. Zwischen Budapest und Berlin. Madrid und Taipeh. Bremen ist nicht die Mitte. Ich bin dankbar, nicht hier bleiben zu müssen und frag mich gleichzeitig, wodurch ich das Privileg verdient habe, von hier weg zu können.

21/12 müde lieg ich im Bett. Heute ist der kürzeste Tag des Jahres, so fällt mir zu später Stund auf. Ich komme wieder von einer Theatervorstellung auf der anderen Seite der Weser. Einer Weser, die heute Wellen schlug, wie ich es noch nicht gesehen hab und die mal wieder das hohe Ufer erklommen hat. Heute hatte ich Spaß. Die Kunst, die ich erleben durfte, hat mich vollkommen aus meinen alltäglichen Gedanken und Rumoren rausgeholt. Wir Menschen sind alles für einander. Selten habe ich das so gespürt, wie heute Abend. Wie heute Abend, als 6 fremde Menschen ihr alles gaben, um dem Publikum Unterhaltung zu bieten. Und mehr als das - es waren Gefühle, Eindrücke und die Darbietung einer mir bis dato unbekannten Welt. Von ihnen zur Schau gestellt. Ich kann mich nur verbeugen, vor solch Fähigkeit und Hingabe fürs Leben und die Kunst.

23/12 Zu dritt saßen wir um den kleinen Tisch herum, Getränke vor uns. Zu meiner Rechten gelehnt an die große Fensterfront der Bar, zu meiner linken ergab sich das Fehrfeld. Endlos, wie es mir schien. Räumlich, ja, und wenn ich einen Moment drüber nachdachte, natürlich! Hier sind unzählige Unendlichkeiten präsent. Für einen Moment in einem Raum vereint. In der Gegenwart, nur ein Schnipsel ihres Lebens, ihrer Gestalt. Unendlichkeit in den Köpfen jedes Einzelnen und in jedem Tisch, jedem Stuhl, der Tapete.
Wir versanken in Gesprächen und wohl keine Themen wären mir irgend lieber gewesen, als die unseren. Wir sprachen über Worte und Wörter - Lieblingswörter, prägende und geschichtsträchtige. Und, wie du so schön sagtest, war es kein Kampf. Wir sprachen miteinander und wogten uns in Sicherheit von den anderen aufgefangen zu werden. Da war Raum und da war Zeit - Für jeden Gedankengang und Einfall, jede Überzeugung und jede Anekdote. So dankbar bin ich euch, für diesen Abend, der auch wie ein Tor, wie eine Tür zu einer anderen Zeit wirkte. An solchen Abenden fällt man anders durch die Zeit. Da verschmelzen Dinge miteinander. Gedanken und Blicke, die Liebe zwischen uns, das Wohlwollen für die anderen. Wie viele solcher Momente bekommt man wohl in seinem Leben?

24/12 Und im Handumdrehen mach ich die Sachen nicht mehr für dich, da hab ich mich und mein Leben wieder. Eine leichte Hoffnung bleibt stets bestehen, aber die Erkenntnis wiegt schwerer, dass ich von dir nie bekommen werde, was ich brauche, was mir gerecht wird. Und immer noch wünsche ich insgeheim, dass du es bist, die dort steht und den Raum füllt mit einer Energie, die noch keine 1000 Menschen zu entstehen vermögen. 2 Sterne. Für einen Bruchteil der Zeit sah es aus, als würden sie kollidieren. Täten sie das, würde sich für sie alles ändern. Und wer weiß, wie weit die Auswirkungen bei solch einer Kraft noch gewirkt hätten. Ich glaub, es ist vielleicht besser, dass ich dies alles nie erfahren werde. Doch wer bin ich, das ich mir rausnehme, über die Sterne zu urteilen? So soll ich niemand sein und mein Urteil - das gibt es nicht.

25/12 Heute schwebt der Himmel zum ersten Mal friedlich über meinen Kopf. Der Sturm hat sich gelegt, doch die Stadt hat ihn noch in ihren Knochen. Weihnachten ist überlebt, für mich geht es nun wieder weiter. Ich reise mit leichtem Gepäck, doch fühl ich mich schwer. Ich bin froh, wenn ich das Gewicht wieder ablegen kann. Gleichzeitig fühlt sich ein Teil von mir wieder neu geladen an. Meine lieben Menschen wiederzusehen, wirklich Zeit für sie zu haben, das tat gut. Egal, als wie eigenständig und mutig ich auch beschrieben werde, ich brauche Menschen um mich, die mich kennen. Menschen, die ich kenne und bei denen sich endlich wieder ein Gefühl von Gewohnheit bei mir einstellt. Ich genieße die letzte Zeit, in der ich auf die flache Landschaft schauen kann. Sie ist, wo ich herkomme.